Versuch über einen Freund: Der Künstler Michael Seyl

Von Rainer Dick

Am Anfang steht eine Treppe. Wuchtige steinerne Stufen streben in Richtung einer Türöffnung nach oben. Unten aber ist's fürchterlich, wo der Betrachter steht. Es ist irgendein Gemäuer, grobe Steinklötze markieren den Türsturz. Trist, kalt, modrig, düster: Hoffnungslosigkeit. Doch der Blick geht hinan, er folgt den steinernen Stufen empor, von denen gleißend die Sonne herunter strahlt bis in die dunkelsten Winkel dieses trostlosen Kerkers. Auch die gruftartige Finsternis des Gelasses unter der Erde wird des Leuchtenden und Weiten gewahr. "Laßt uns das Offene schauen", hat Hölderlin geschrieben, bevor er im Dunkel seines Turmes versiechte. Da leuchtet etwas dem Menschen, das Licht der Hoffnung, das Licht der Erkenntnis und - beides in sich vereinend - das Licht des Schöpferischen.

Michael Seyls Aquarell von der Steintreppe, die aus Kerkersgruft hinauf führt ins Licht, ist nicht nur eine der ergreifendsten Darstellungen des Weges aus der Ausweglosigkeit, die ich kenne. Es darf getrost auch als Metapher für sein ganz persönliches künstlerisches Schaffen angesehen werden. Denn es formuliert den Weg hinauf in die lichten Höhen kreativer Reflexion, die ihn ja tatsächlich zur Beschäftigung mit dem Licht geführt haben. Und wie in Hermann Hesses großartig schlichtem "Stufen"-Gedicht hat Michael Seyl auf seinem künstlerischen Weg Stufe um Stufe erklommen: "Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf um Stufe heben." Es ist noch längst nicht abzusehen, welchen Weg der gerade 33jährige noch gehen wird, wahrscheinlich kann er es selbst nicht wissen. Licht und Farbe, das Wechselspiel des Visuellen, dürften ihn indes noch eine ganze Weile beschäftigen. Doch blicken wir zunächst zurück.

Das 400-Einwohner-Dorf Rutsweiler zieht sich langgestreckt am Glan entlang, dem Westpfälzer Flüßchen am Fuße des Remigiusberges. Hier ist Michael Seyl -1963 als Sohn des Gipsers Walter Seyl und seiner Frau Inge, geb. Cappel, im nicht allzu weit entfernten Bedesbach geboren - aufgewachsen. Rutsweiler, wo der Vater heute das Amt des Ortsbürgermeisters bekleidet, bedeutet ihm viel. "Das ist meine Heimat", sagt er ohne sentimentales Pathos. Scheinbar stimmungsvolle Idyllen aus dem Glantal, in denen sich Beschaulichkeit mit Kitsch paart, gibt es in seinem Schaffen allerdings nicht. Dafür ist er in seinen künstlerischen Mitteln zu geradlinig, zu aufrichtig und zu nüchtern. Allenfalls die Bilder von Loren und Steinbruchwägelchen, wie sie für die bescheidene hiesige Industrie typisch sind, finden sich - farblich freilich verfremdet! - in einigen frühen Bildern. Ansonsten perspektivische Studien, viele Portraits, leichthin skizzierte Versuche im Bemühen um eine eigene Bildsprache. In dem Künstler Horst Schwab fand Michael Seyl am Kuseler Gymnasium einen wichtigen Lehrer, der zum Vorbild und nach dem Abitur zum Freund und Mentor wurde.

Bei der Frage, welche Richtung sein weiterer Lebensweg mit dem Ende der Schulzeit nehmen sollte, wählte er zunächst eine von zwei Alternativen. Ein Studium der Elektrotechnik, 1982 in Kaiserslautern begonnen, brach er nach zwei Monaten ab. Erst nach diesem kurzen technischen Intermezzo entschied sich Michael Seyl fürs Kreative, indem er sich an der Universität Saarbrücken für Kunsterziehung, Kunstgeschichte und Germanistik einschrieb. Sigurd Rompza und Karl Otto Jung waren hier seine Lehrer, ehe der im Kuseler Jugendhaus abgeleistete Zivildienst eine weitere Zäsur markierte.

Im November 1986 dann die Ausstellung "Einblicke", die "Junge Kunst im Jugendhaus" präsentierte. Michael Seyl initiierte mit dieser Veranstaltung erstmals in der Hutmacherstadt ein Forum für junge Kreative, das tatsächlich auch das nicht sonderlich aufgeschlossene Westpfälzer Publikum anzusprechen vermochte. Dem Bestreben, Kunst und Leben zusammenzuführen, indem er das eine in das andere einbindet, widmet Michael Seyl seitdem ein Gutteil seiner Energie. Er hat seine Bilder in Friseurläden, Kneipen und Geschäften ausgestellt - ohne die dünkelhafte Angst vieler entrückt-bornierter Pseudo-Genies, sich an Orten wie diesen unter Wert zu prostituieren. Diese Versuche, die Kunst aus ihrem selbst errichteten Elfenbeinturm herauszuholen und zu den Menschen zu bringen, zieht sich bei aller Komplexität seiner fürwahr nicht immer eingängigen Werke durch sein gesamtes Schaffen. Gemeinsam mit Wilfried Dahl, dem zu Unrecht nur in der engeren Heimat bekannten Maler und Grafiker, konnte er 1987 zahlreiche Kuseler Gewerbetreibende überreden, ihre Schaufenster- und Ladenflächen der Kunst zur Verfügung zu stellen. "Kusel, Stil- und Lebensart" hieß dieses nur auf den ersten Blick ungewöhnliche Projekt, durch das die Auseinandersetzung mit Bildern und Plastiken hineingetragen wurde in die Hektik von Einkaufshetze, Dienstleistung und Kommerz. Kunst und Leben können trefflich einander ergänzen, sofern elitäres Denken Platz macht für Aufgeschlossenheit und die Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen. So gibt es auch die "Einblicke" im Jugendhaus noch immer, obwohl der "Zivi" Michael Seyl seinen Dienst dort längst abgeschlossen hat. Nach wie vor engagiert er sich in Auswahl, Aufbau und Organisation dieser Ausstellung. Im Zwei-Jahres-Turnus wiederholen sich die "Einblicke", die heuer zum siebten Mal stattfinden und inzwischen einen festen Platz im Kulturgeschehen Kusels einnehmen. Seit 1995 steht am Ende der zweiwöchigen Ausstellung außerdem die Verleihung eines Nachwuchs-Preises, der gemeinschaftlich von der Evangelischen Kirchengemeinde Kusel (der Trägerin der Jugendeinrichtung) und dem Kunstkreis ausgelobt wird. Letzterer geht gleichfalls auf Michael Seyls rührigen Einsatz zurück:
Er wollte der geringen Reputation der West-, oder in diesem Falle wohl besser: der Hinterpfälzer Kunstszene einen gewissen Auftrieb verschaffen, indem er diverse Kreative zusammenbrachte und sich um Ausstellungen bemühte, die auch über diese Region hinaus Aufmerksamkeit erregten. Außerdem veröffentlichte er in der Tageszeitung "Die Rheinpfalz" eine Serie von Portraits hiesiger Künstler, die im Jahre 1994 unter dem Titel "Bildende Kunst im Raum Kusel" auch in Buchform erschienen ist. Tatsächlich konnte er mit diesen Aktionen das Übergewicht der süd- und vorderpfälzischen Künstler zumindest ansatzweise reduzieren, indem er einen "Initiativkreis Bildende Kunst" vorantrieb. Dieser lose Zusammenschluß durchaus unterschiedlich interessierter Maler, Bildhauer und Grafiker wurde im Jahre 1994 zu einem Kunstverein erweitert: dem Kunstkreis Kusel, dessen Vorsitz Michael Seyl seitdem innehat. Es handelt sich hierbei um keine homogene Gruppe, zumal neben deutlich divergierenden Kunstauffassungen und Gestaltungsvorlieben auch die üblichen Eifersüchteleien auftreten. Aber der Kunstkreis verschafft dem schöpferischen Potential einer künstlerisch bislang nahezu unbeachteten Region Beachtung: Neben der großen Gemeinschaftsausstellung "Bildende Kunst im Raum Kusel", die 1994 zeitgleich mit dem Erscheinen von Seyls Buch stattfand, hat der Kunstkreis zwischenzeitlich die Schau "Spektrum" im rheinland-pfälzischen Landtag ausgerichtet. Außerdem veranstaltet der Kunstverein wechselnde Ausstellungen im Auswanderermuseum Oberalben, im Kuseler Amtsgericht und im Heimatmuseum. Im städtischen "Haus des Gastes" wird regelmäßig begabten Nachwuchskünstlern die Möglichkeit geboten, sich einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Michael Seyl steuert zur Eröffnung der jeweiligen Präsentation stets ebenso einfühlsame wie sympathiegetragene Einführungen bei. Er mag sich dabei durchaus an die ersten eigenen Schritte in die Publizität erinnern.

Sie führten ihn nach dem Zivildienst und einer schweren, von Depressionen und Unzufriedenheit geprägten Phase 1987 an die Kunstakademie Münster. Aus dem Dunkel persönlicher Bekümmertheit erklomm Michael Seyl jetzt die erste Stufe hinauf ins Licht. Noch tastete er sich nur zaghaft und zögerlich empor, denn der junge Mann probierte sich und seine künstlerischen Möglichkeiten erst aus. Die Bedrückungen der letzten Monate vor dem Weggang nach Münster sind seinen Bildern deutlich anzumerken. Zwar wandte er sich nach einer überwiegend von Drucken, Kohle- und Bleistiftzeichnungen beherrschten Phase peu ä peu der farbigen Malerei zu, doch bestimmendes Element waren gleichwohl die düsteren Themen. Mit Rötel gezeichnete Totenschädel, denen er sich aus verschiedenen Perspektiven näherte und die er "Memento mori" nannte; ein abgehauener Baumstamm, dessen Stumpf trist aus dem Boden ragt; dunkle, für das Licht fast undurchlässige Wälder, die kaum den Blick freigeben auf ein Haus, einen Turm, eine Lichtung. Und immer wieder Wege, deren Verlauf und Ziel weder der Künstler noch der Betrachter kennt. Die Lithographie einer Holzbrücke über den Glan, deren Verbindung zum anderen Ufer in Dunkel und Nebel verschwindet; das Aquarell eines Waldweges, der sich im Dickicht der Bäume verläuft. Am Rande taucht überraschenderweise eine rote Tanne auf. Ein Blick auf Eisenbahnschienen, die in verschiedene Richtungen führen. Eine Weichenstellung ist noch nicht in Sicht, deutet sich aber bereits an. Auch die Treppe, von deren oberem Ende das Licht herunterstrahlt ins Verließ der Niedergeschlagenheit, verheißt, daß es nur nach vorn gehen kann.

"Jch war im Studium und wußte nicht, wo es hingehen sollte", sagt Michael Seyl heute. Er habe deshalb versucht, sich "einen Überblick zu verschaffen über das, was schon da war". Von Dürer über Menzel und Morandi bis Janssen näherte er sich zeichnerisch diversen Vorbildern, um schließlich ganz allmählich den Schritt von der Zeichnung zur Malerei zu wagen. Waren bereits die frühen Blätter sehr deutlich von Hell-Dunkel-Kontrasten bestimmt, wandte er sich jetzt den Komplementärfarben zu. Ein Aquarell-Stilleben mit blauem Apfel veranschaulicht bereits, welche Bedeutung den Farben im Seylschen Schaffen zukommt: Nach den zwar trostlosen, aber realistischen Zeichnungen und Aquarellen der Jahre 1986/87 geht es jetzt nicht mehr um die Wiedergabe der Dinge, wie sie tatsächlich sind, sondern wie sie sich farblich in den Bildzusammenhang einfügen. Die Gegensätzlichkeit von Hell und Dunkel wird abgelöst durch die Gegenüberstellung komplementärer Farben: Neben einem orangenen Apfel kann nur ein blauer liegen. Konsequenterweise ist schon sehr bald alles Gegenständliche aus den Bildern verbannt, zumal den Künstler ausschließlich die Beschäftigung mit Farben interessiert. Die Farben aber, sagt Goethe, "sind Taten und Leiden des Lichts". Und damit wendet sich Michael Seyl den Wirkungsweisen von Licht und Farbe zu. Pate stand anfangs Cezanne. Dann führte sein Weg zur Beschäftigung mit den Künstlern des Bauhauses bis hin zu amerikanischen Farbfeldmalern.

An der Akademie in Münster war er in die Klasse von Timm Ulrichs aufgenommen worden, in dessen befruchtenden Kolloquien der "totale" Kunstbegriff ebenso eloquent wie facettenreich neu definiert wurde. "Bei ihm war altes so offen, nicht festgelegt", sagt Michael Seyl. "Er ist ein Künstler, der sich eine ungeheure Freiheit bewahrt hat." Ulrichs' Denkansatz, alle Kunst müsse den Menschen ästhetisch in irgendeiner Weise ansprechen und ihm zugleich einen Erkenntnisgewinn vermitteln, hat auch Seyls Selbstanspruch stark beeinflußt. Auch er will mit seiner Arbeit sowohl das Empfinden als auch den Intellekt des Betrachters erreichen. Dies kann natürlich auch einen negativen, also ablehnenden Effekt bewirken. Wichtig ist jedoch, daß der "Konsument" sich überhaupt mit dem künstlerischen Werk auseinandersetzt. Er selbst habe "ein Jahr lang nur zugehört", als er in die Klasse von Timm Ulrichs gekommen sei, erinnert sich Michael Seyl. Zugleich entdeckte er sein ureigenes Betätigungsfeld in den reichen Wechselwirkungen und -beziehungen von Licht und Farbe.

Während er außerdem an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Germanistik-Vorlesungen hörte und als Mitarbeiter im Institut für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters bei Rudolf Schützeichel althochdeutsche Glossenhandschriften bearbeitete, widmete er sich intensiv der Farbtheorie. Besonders mit Goethes 1810 abgeschlossener Farbenlehre, in welcher der Dichterfürst auf 1.400 Seiten vehement Newtons Theorie der Gleichheit von Lichtbeschaffenheit und optischer Erscheinung widerspricht, setzte er sich lange auseinander. Für Goethe war das Licht nicht teilbar, es war vollkommen, ganz, rein und wahr, "und ich hielt es meines Amtes, dafür zu streiten", wie er es gegenüber Eckermann formulierte. Das Gegensatzverhältnis der Komplementärfarben, das Goethe vor 180 Jahren so fasziniert hatte, zog auch Michael Seyl an. Sein Bestreben, die Eindrücke des Ewigkeits-Dichters nachzuvollziehen, führten schießlich zu seinen ersten Experimenten mit Farbe und Licht. Seyl strahlte eine rote Leinwand mit grünem Licht an, und das Rot verschwand. Er nannte diese Installation, die das destruktive Moment der komplementären Farbenlehre thematisiert, "Rot - ausgelöscht" - ein früher Ahn all dessen, was er noch 1989 mit Leuchtstoffröhren und Leinwänden schaffen sollte. Dieses für das Verständnis des Farbenwesens grundlegende Gegensatzverhältnis handelte Michael Seyl in einer Fülle von Installationen ab, die überwiegend aus Neonröhren, filternden Folien, Leinwand und Acryl-farben bestanden. "Wenn man", so lautet beispielsweise Goethes Vorgabe für eine "Versuchsanordnung" von Seyl, "die im Auge verweitenden farbigen Scheinbilder auf farbige Flächen führt, so entsteht auch eine Mischung und Determination des Bildes zu einer anderen Farbe, die sich aus beiden herschreibt".

Während dieser intensiven Beschäftigung mit der Farbenlehre des Weimarer Geheimrates hat Michael Seyl mehrere "Hommages à Goethe" geschaffen: ein in die Wand geschlagener Nagel, der infolge des Simultankontrasts einen roten und einen grünen Schatten wirft; ein Prisma, das am Rand eines aufgehängten Bildes Kantenspektren entstehen läßt; eine Baumwollunterhose, die ironisch an Goethes Verhöhnung der Newton-Anhänger erinnern soll. Schließlich bezog sich Michael Seyl, der zwischenzeitlich seine erste Einzelausstellung in der Grünstadter Galerie "Kunst am Taubengarten" hatte, auch in seiner Examensarbeit auf die Farbtheorie des Dichters. In einem Aufsatz, den er zu seiner Examensausstellung im Dezember 1991 niederschrieb, erläuterte er nicht nur seine Lichtmalerei, sondern zielt im Titel auf Goethes angeblich letzte Worte auf dem Sterbebett an: Hatte jener im Angesicht des Todes "Mehr Licht" verlangt, so postulierte er in seiner Examensarbeit: "Noch mehr Licht!"

Der nach wie vor weitverbreiteten Meinung, die Bildende Kunst müsse ausschließlich materiell greifbare Werke hervorbringen, erteilt Michael Seyl eine Absage. Denn er arbeitet zwar mit Neonröhren, Scheinwerfern, Farbfolien und monochromen Flächen. Das eigentliche Kunstwerk hingegen hängt ebenso vom Vorhandensein und Funktionieren dieser Hilfsmittel wie von Wahrnehmung und Hingabe des Betrachters ab. Anders gesagt: Wird das elektrisch erzeugte Licht abgeschaltet, wirft der Nagel keinen Schatten mehr, und die "Hommage ä Goethe" ist vorüber - übrigens ein interessanter Aspekt der künstlerischen Reflexion über Werden und Vergehen, zu dem sich der Künstler selbst noch nicht geäußert hat. Obwohl er mit seinen Installationen durchaus eine Aussage verbindet, faßt er generell nur zusammen, es handele sich um "bestimmte Ideen, die mit der Wahrnehmung von Farben zu tun haben und mir als Anlaß zur Gestaltung dienen". Insofern beschäftigt sich Michael Seyl mit nichts anderem als den Grundelementen der Malerei, nämlich mit Licht und Farbe. Die Akademie in Münster hatte er nach bestandenem Examen und dem Erwerb des Diploms im Fach "Freie Kunst" im Jahre 1994 verlassen.

"In einer Zeit, in der die Bilderflut der Medien uns zu ersticken droht, male ich Einzelbilder, die den Betrachter zu genauerem Hinsehen veranlassen", hat Michael Seyl einmal gesagt. Das, was er tut, ist nicht sofort eingängig. Es setzt die Bereitschaft voraus, sich einem Werk hinzugeben, sich einzufühlen, nachzudenken, zur Ruhe zu kommen. Seine Installationen zu goutieren, hat vielleicht sogar etwas mit Kontemplation zu tun, mit Besinnung und Einkehr, Die nächste Stufe seines künstlerischen Wirkens hat daher eine spirituelle Qualität, die das meditative Moment seiner Licht-Spiele verdeutlicht. In der evangelischen Kirche zu Kusel finden immer in den letzten Wochen vor dem Oster- und dem Weihnachtsfest sogenannte "silentium"-Abende statt. Sie sollen, wie es der kunstinteressierte und mit Seyl befreundete Pfarrer Roland Wagner einmal umschrieb, ein Gegengewicht sein zur allgemeinen Hektik vor den Festtagen. In der Regel ist das Gotteshaus völlig abgedunkelt, erhellt nur vom Schein weniger Kerzen und durchweht von meditativen Orgel- oder Choralklängen. Michael Seyl arbeitet an der künstlerischen Gestaltung seit 1995 regelmäßig mit, indem er auch die Kirche zum Schauplatz seiner ruhe- und stimmungsvollen Installationen macht. So projezierte er einmal eine mittelalterliche "majestas domini"-Darstellung auf die Kanzel, deren Bild immer deutlicher wurde, während im unbeleuchteten Chorraum eine sehr leise Orgelmusik zu hören war. Unlängst dann erschien über dem Altar ein gleichfalls projeziertes Kreuz, das sich durch die Kirche bewegte. Gerade in dem besonders ausgeprägten Einkaufsstreß der Adventszeit ist das Betreten der Kirche wie der Eintritt in eine andere Welt: draußen vorweihnachtliche Konsum-Ekstase, drinnen die Labsal der Stille. Selbst die Dunkelheit, die in Seyls frühen Werken Ausdruck einer depressiven Unbehaustheit war, hat in diesem Rahmen eine zärtliche, wohltuende, Geborgenheit vermittelnde Note.

Diesen Zauber des Innehaltens, diese Sphäre des Feierlichen hatte auch Michael Seyls erstes Burgenprojekt, das im Herbst 1995 auf der Burg Lichtenberg bei Kusel über die Bühne ging. Mit dieser spektakulären Aktion wandte er sich endgültig vom "Bild" im eigentlichen Sinne ab. Nunmehr ist seine Kunst überhaupt nicht mehr greifbar, ist nur noch visuell und so vergänglich wie das Licht, aus dem sie besteht. Ein Werk dieser Art läßt sich nicht erwerben und nach Hause tragen. Es ist so flüchtig wie der Augenblick, in dem es existiert. Aber es ist zugleich so dauerhaft wie der Eindruck, den es im Beschauer hinterläßt. "Lichter über Burg Lichtenberg" nannte er das Projekt, und im Untertitel "Regenbogen bei Nacht". Vom Bergfried der mittelalterlichen Festung schickte er aus leistungsstarken Scheinwerfern Lichtkegel in die Nacht, die in den Farben Rot, Gelb und Blau leuchteten. Die Kegel verdichteten sich allmählich zu gebündelten Strahlen, die sich aufeinander zu bewegten und schließlich - schräg gegen den Himmel gerichtet - parallel verliefen. Vom Land Rheinland-Pfalz als Bestandteil des Kultursommers 1995 gefördert, stieß dieses Projekt von Anfang an auf breite Publizität. In der Bevölkerung wurde das lautlose Spektakel, das sowohl an die Flak-Scheinwerfer des Zweiten Weltkriegs erinnern als auch ein Zeichen der Hoffnung setzen sollte, naturgemäß sehr kontrovers diskutiert, zumal sich die Ankündigung, die verwendeten "Cyberlights" seien bis zu 6.000 Meter weit sichtbar, nicht von jedem Standpunkt aus nachvollziehen ließ. Gleichwohl war der Name Michael Seyl für die Dauer der sechstägigen Aktion in aller Munde. Das im Sommer 1997 stattfindende Burgenprojekt, das diesmal neben der Lichtenburg auch die Burg Neuleiningen und die Ebernburg bei Bad Münster integriert, hat einen noch größeren Rahmen - und dürfte auch auf ein noch größeres Publikumsinteresse stoßen.

Die Gegend um die Ebernburg hat Michael Seyl kennengelernt, als er in Bad Kreuznach seine Referendarzeit als Gymnasiallehrer für Deutsch und Bildende Kunst verbrachte. Seit 1996 unterrichtet er diese beiden Fächer am Gymnasium Kusel. [...] Gleichfalls 1996 hat er im Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum eine "Kunstaktion zu Mondrian" gestartet, indem er in den Ausstellungsräumen eine Kopie der "Komposition mit Rot, Gelb, Blau" des Niederländers anfertigte - ein weiteres publikumswirksames Happening, das erneut seinem Anspruch von der "Kunst vor Ort" und der "Kunst im Leben" gerecht wird. Auch die Installationen auf den Burgen Lichtenberg, Ebernburg und Neuleiningen, die einen imaginären Farbkreis über der Pfalz schlagen und ein "weithin sichtbares Zeichen für die Kunst setzen" sollen, sind den Primärfarben gewidmet. In seinem Atelier bereitet er derweil bereits sein nächstes Projekt vor: Experimente mit Magentarot.

Bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch haben wir neulich das alte Spielchen gemacht, auf bestimmte Begriffe die erstbesten Assoziationen zu formulieren, ohne lange darüber nachzudenken. Als ich ihn mit den Stichworten "Ziele und Perspektiven" konfrontierte, sagte Michael Seyl: "Auf Jeden Fall hochgesteckt." Ein scherzhaftes Kokettieren mit dem eigenen Ideenreichtum? Ich glaube nicht. Denn es sind noch einige Stufen zu erklimmen.
 

Quelle:

Michael Seyl, Gelb, Rot, Blau, mit einem Text von Rainer Dick, Katalog zur Lichtinstallation auf den Burgen Lichtenberg, Ebernburg und Neuleiningen, 32 Seiten, 26 Abbildungen, Druckerei und Verlag Koch, Kusel 1997, S. 15-26